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Wir dürfen auch krass sein

Mit „man“ distanziere ich mich von einer Aussage. Ebenso wie mit „eigentlich“, „ein bisschen“ oder „halt“. 

Jeder, der sich mit Rhetorik befasst hat, wird darüber aufgeklärt worden sein. Ich will versuchen, diesen Text ausschließlich mit „ich“-Aussagen zu formulieren. Denn hierbei geht es um mich, wobei mir das nicht immer leicht fällt. Noch so eine Formulierung. Warum kann es mir nicht einfach schwer fallen? Weil das zu krass ist? Ich erlebe es immer wieder, wie ich mich von mir distanziere, sei es indem ich über die Geschichten anderer (zum Beispiel über Filme) rede, statt über meine eigene, indem ich über ein GIF kommuniziere, statt in einer Sprachnachricht zu kreischen, wie „hypermegatoll“ das ist, indem ich mich betrinke, bevor ich ihm sage, dass ich ihn mag. Ich suche dauernd eine Ausrede, die ich vorzeigen kann, falls jemand mich angreift.

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Ich suche dauernd eine Ausrede

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Zugegeben ist es anstrengend, alles in ich-Formulierungen zu schreiben. Lieber wäre mir „wir“. Dann könnte ich sagen, das machen ja auch andere. Und sobald ich mich verunsichert fühle, sage ich „Hey, das war ein Versehen, ich sehe das ganz anders. Die anderen haben das gesagt und ich hab nicht nachgedacht“. Wenn ich weiß, wer ich bin, wird mich die Kritik eines Einzelnen nicht groß stören und wenn, rede ich mit der Person darüber. Nur ist es etwas schwierig, zu wissen, wer ich bin, wenn ich mir dauernd einrede, dass ich etwas nicht sein darf.

Wenn ich das nicht bin und das auch nicht und das eigentlich auch nicht, wer bin ich dann? Was bleibt da noch übrig? Sicher niemand mit einer starken Persönlichkeit.

 

Wer bin ich dann?

 

Das, was mich ausmacht, sind die Eigenschaften, die mich von anderen unterscheiden. Manchmal werde ich auf Menschen treffen, die meine Sensibilität verstört. Manchmal werde ich auf Menschen treffen, die meine Sensibilität als aufdringlich empfinden. Manchmal werde ich auf Menschen treffen, die mir vorwerfen, nur so zu tun, als sei ich sensibel. Und manchmal werde ich auf Menschen treffen, die ihr Leben lang nach jemandem wie mir gesucht haben. Dazu, jemand zu sein, gehört, dass es Menschen gibt, die mich nicht mögen. Oder sogar hassen. Okay. Das ist vielleicht wirklich ein bisschen krass. Aber selbst wenn, andere werden mich dafür lieben.

In der Schule habe ich das anders beigebracht bekommen. Um gemocht zu werden, musste ich im Unterricht leise sein, meine Aufgaben nach genauen Vorgaben ausfüllen und die gleiche Kleidung wie alle anderen tragen. Ich sollte einen Sport machen, mit dem ich Leistung zeigen kann oder zumindest Teamgeist beweise und einen Beruf wählen, der „vernünftig“ klingt. Ich war immer Außenseiterin. Gehasst wurde ich nur von mir selbst. Es wird immer Menschen geben, die mich komisch finden und die, die mich für genau die gleichen Gründe lieben.

Wem von beiden ich glaube, hängt von mir ab.

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Nahezu alles, was Menschen tun, tun sie nicht wegen Dir, sondern wegen ihnen. Ein einfaches Beispiel ist, wenn ich langsam durch die Stadt laufe, weil ich gerade Musik höre und etwas verträumt bin. Ich begegne mehreren Menschen, wovon viele einfach an mir vorbei laufen. Vielleicht lächle ich eine Person an, weil ich gut gelaunt bin und sie lächelt zurück, weil sie das Gefühl hat, ich finde sie sympathisch und das freut sie. Vielleicht lächelt sie auch nicht zurück, weil sie schlecht gelaunt ist und nicht wahrnimmt, dass jemand sie gerade angelächelt hat. Vielleicht denkt sie sogar, ich mache mich über sie lustig und guckt schnell weg. Vielleicht geht hinter mir jemand, der es eilig hat und sich deswegen darüber aufregt, dass ich langsam gehe. Vielleicht geht neben diesem eilenden Menschen jemand, der genauso entspannt ist und sich freut, nicht der Einzige zu sein, der langsam durch die Stadt geht. Was das alles nun über mich sagt? Dass ich langsam durch die Stadt laufe, weil ich gerade Musik höre und es mag, zu träumen.

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Dazu, gemocht zu werden, gehört, nicht gemocht zu werden

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Hätte ich früher angefangen, mich ernst zu nehmen, hätte ich schon damals Yoga gemacht. Ich hätte, statt meine Haare bunt zu färben, danach verlangt, dass man mir zuhört. Ich hätte ein paar Menschen weniger in mein Leben gelassen. Und ich hätte schon damals geschrieben.

Ich denke, an dieser Stelle darf ich von einem „wir“ sprechen. Meine Geschichte ist kein Einzelfall. Eine der Dinge, die ich mit der Zeit gelernt habe, ist: Das Liebenswerteste, was Du tun kannst, ist, zu sein, wer Du bist. Sei neugierig auf Dich. Erzähl Deine Geschichte. Sei Du selbst, mit aller Unsicherheit, die damit einhergeht. Du wirst Menschen finden, die Dich ganz genau dafür lieben.

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